Risiko Refeeding Syndrom

Heute möchte ich über ein Phänomen aufklären, welches leider noch immer nicht sehr bekannt ist. Dieses Phänomen stellt einen großen Risikofaktor in der Recovery aus einer restriktiven Essstörung, wie der Magersucht, dar und ist mir selbst in meiner Arbeit als Recovery Coach schon begegnet: das Refeeding Syndrom.
Medizinisch wurde dieses Phänomen bereits zur Befreiung der Konzentrationslager im Zweiten Weltkrieg beschrieben. Dort hat man entdeckt, dass mangelernährte Gefangene nach zu schneller Energiezufuhr zum Aufpäppeln plötzlich verstorben sind, wohingegen die, die ihre Nahrungsmenge nur langsam wieder gesteigert haben, deutlich bessere Überlebenschancen hatten. Was war da passiert?
Beim Refeeding Syndrom handelt es sich um eine medizinische Komplikation, die auftreten kann, wenn jemand, der seine Kalorienaufnahme drastisch reduziert hat, wieder anfängt, mehr zu essen.
Das Refeeding Syndrom kommt zwar glücklicherweise nicht sehr häufig vor, aber zu wissen, was es ist, wie es sich äußert und worauf man achten kann, um das Risiko seiner Entwicklung zu verringern, ist extrem wichtig, um im Zweifelsfall schnell reagieren zu können.

Was ist das Refeeding Syndrom?

Beim Refeeding-Syndrom kann es zu körperlichen Veränderungen kommen, wenn ein Mensch nach einer Zeit des Hungerns oder einer unzureichenden Nahrungsaufnahme schnell wieder große Mengen an Nahrungsmitteln oder Getränken zu sich nimmt. Das Refeeding-Syndrom ist durch eine starke Verschiebung der Flüssigkeits- und Elektrolytkonzentration, vor allem von Phosphat, Kalium, und Magnesium, gekennzeichnet. Das sind Schlüsselelektrolyte, die die Regulierung des Flüssigkeitshaushalts im Körper und die Muskelkontraktion (Gefahr von Herzstillstand) unterstützen. Aber auch Ödeme, also Einlagerungen von Salz und Wasser, können auftreten.

Ich möchte dir hier keinesfalls Angst machen, deinen Körper so schnell wie möglich aus dem Energiedefizit zu holen, denn die Risikofaktoren der Mangelernährung sind ebenfalls erheblich.
Das Risiko des Refeeding Syndroms kann unter fachkundiger Aufsicht nämlich verhindert und behandelt werden.

Entstehung des Refeeding-Syndroms

Unser Körper schaltet, wenn er sich über einen längeren Zeitraum in einem Hungerzustand befindet (Fünf Tage können hier schon reichen) auf Fettspeicher und den Abbau von Muskeln (Katabolismus) als bevorzugte Energiequelle um, da die Kohlenhydratspeicher als Erstes aufgebraucht sind. Dadurch kann der Körper einen Mangel an Nährstoffen und Elektrolyten wie Natrium, Magnesium, Kalium und Phosphat erleiden.

Diese Elektrolyte werden vom Körper für die Verstoffwechselung der Nahrung (Energiegewinnung aus der Nahrung) benötigt. Wenn also nach einer Hungerperiode wieder größere Mengen an Nahrung, insbesondere Kohlenhydrate, zugeführt werden, verwendet der Körper diese Elektrolyte für den Abbau der Nahrung, so dass für andere Körperfunktionen weniger übrig bleibt. Der Rückgang der dringend benötigten Elektrolyte in unserem Blut kann zu schwerwiegenden Verschiebungen im Flüssigkeits- und Elektrolytgleichgewicht führen, wodurch wichtige Funktionen wie die Muskelkontraktion beeinträchtigt werden. Das kann zum Beispiel zu Krampfanfällen und zum plötzlichen Herzstillstand führen, vor allem nachts, wenn die Glukosewerte zu tief sinken.
Obwohl schwere Fälle selten vorkommen, weil Ärzte heute wissen, wie man das Risiko des Refeeding-Syndroms sicher beherrscht, kann dieser Zustand (wenn er nicht erkannt wird) lebensbedrohlich sein.

Symptome und Anzeichen des Refeeding-Syndroms

Doch wie erkennst du jetzt, ob du gefährdet bist? Es ist wichtig, auf die Anzeichen eines Refeeding-Syndroms zu achten, da es einige Überschneidungen mit dem allgemeinen Unwohlsein oder den Nebenwirkungen eines unterernährten Körpers gibt. Häufige Anzeichen und Symptome, auf die man achten sollte, sind:

  • Absinken der Elektrolytwerte bei Bluttests (der Hausarzt oder der Arzt im Krankenhaus sollte dies im Auge behalten)
  • Delirium (plötzliche Verwirrung oder Schläfrigkeit)
  • Schmerzen in der Brust oder unregelmäßiger Herzschlag
  • Flüssigkeitsansammlungen (Ödeme) in den Beinen, im Gesicht oder im Unterleib einer Person
  • Krampfanfälle
  • Muskelschwäche, Muskelzuckungen oder Zittern
  • Magen-Darm-Veränderungen wie Erbrechen oder Durchfall
  • Gefühl der Ohnmacht
  • Atemprobleme

Risikoermittlung – Bin ich in Gefahr?

Das National Institute for Health and Care Excellence hat Kriterien zur Bestimmung des Risikos für die Entwicklung eines Refeeding-Syndroms entwickelt:

Risiko

  • geringe oder keine Nahrungsaufnahme über 5 Tage

Hohes Risiko
Wenn du einen oder mehrere der folgenden Punkte erfüllst:

  • BMI <16
  • Unbeabsichtigter Gewichtsverlust von mehr als 15 % des Körpergewichts innerhalb der letzten 3-6 Monate
  • Geringe oder keine Nahrungsaufnahme während 10 Tagen
  • Niedrige Kalium-, Phosphat- oder Magnesiumwerte vor der Nahrungsaufnahme

Wenn du zwei oder mehr Kriterien der folgenden Punkte erfüllst:

  • BMI <18,5
  • Unbeabsichtigter Gewichtsverlust von mehr als 10 % des Körpergewichts innerhalb der letzten 3-6 Monate
  • Geringe oder keine Nahrungsaufnahme über 5 Tage
  • Alkohol- oder Drogenmissbrauch in der Vorgeschichte, einschließlich Insulin, Chemotherapie

Schweres Risiko

  • BMI <14 – Geringe oder gar keine Nahrungsaufnahme für >15 Tage

ACHTUNG: Vielleicht denkst du jetzt: „Aber ich bin ja im Normalgewicht.“, oder „Bei meiner Körperform (Ich sehe nicht abgemagert aus), kann mir das nicht passieren.“
Nun, leider kann man auch hier keine Entwarnung geben. Das Refeeding-Syndrom kann bei jedem Gewicht und jeder Körperform auftreten, nicht nur bei Menschen mit geringem Körpergewicht.
JEDE(R) kann das Refeeding Syndrom entwickeln, wenn er eine erhebliche Menge an Gewicht verloren hat. Magersucht kommt auch in mehrgewichtigen Körpern vor und nur weil jemand immer noch im „Normalgewicht“ oder sogar in einem höheren Gewichtsbereich ist, bedeutet das nicht, dass der Körper nicht unter dem bisherigen (oft erheblichen) Gewichtsverlust und der Restriktion gelitten hat.
Hier möchte ich auch Talia Cecchele zitieren, deren Wissen als auf Essstörungen spezialisierte Ernährungsberaterin maßgeblich in diesen Beitrag eingeflossen ist: „Die meisten Erfahrungen, die wir und unsere Diätassistenten-Kollegen mit der Entwicklung eines Refeeding-Syndroms gemacht haben, betrafen Menschen mit einer größeren Körperform, die erheblich an Gewicht verloren hatten. Dies unterstreicht einmal mehr die Wahrheit über den BMI und Essstörungen.“

Was kannst ich tun, um mit dem möglichen Risiko umzugehen?

Wenn du das Gefühl hast, dass das Risiko besteht, dann hole dir unbedingt einen Arzt und einen (idealerweise auf Essstörungen spezialisierten) Ernährungsberater an Bord. Ich kann Talia und ihr Team nur wärmstens empfehlen, für alle, die Englisch sprechen.

Ein zugelassener Ernährungsberater kann dich in den ersten Phasen der Ernährungsrehabilitation unterstützen und anleiten, um das Risiko der Entwicklung eines Refeeding-Syndroms zu kontrollieren. Das Wichtigste ist, du ahnst es vielleicht schon, die Nahrungsaufnahme nicht plötzlich, sondern allmählich wieder zu erhöhen, um starke Elektrolytverschiebungen zu vermeiden. Ein Arzt sollte deine Elektrolytwerte regelmäßig überwachen (durch Bluttests), damit gegebenenfalls wichtige Mineralstoffe ersetzt werden können.

Vielleicht bist du gerade super motiviert und möchtest am liebsten „All-In“ gehen, stellst aber fest, dass bei dir ein Risiko besteht. Behalte dir diese Motivation unbedingt bei, aber überstürze nichts. Wenn du befürchtest, dass du gefährdet bist, ist es am besten, dir einen zugelassenen (idealerweise auf Essstörungen spezialisierten) Ernährungsberater an Bord zu holen. Dieser kann einen „Refeeding-Mahlzeitenplan“ erstellen, der die einzelnen Schritte zur Rückkehr zu einer normalen Ernährung beschreibt.

Einige Faktoren, die ein Ernährungsberater bei der Erstellung seiner Empfehlungen berücksichtigen wird, sind:

  • Aufteilung der Mahlzeiten und Zwischenmahlzeiten, um eine hohe Kohlenhydratzufuhr zu vermeiden
  • Aufnahme von phosphatreichen Lebensmitteln (hauptsächlich Milchprodukte)
  • Begrenzung kohlenhydratreicher Flüssigkeiten (Säfte, Softdrinks, Limonaden) und zuckerhaltiger Lebensmittel (Lutscher, Schokolade, stark verarbeitete Lebensmittel)
  • Begrenzung der Flüssigkeitszufuhr auf ein normales Maß, das in der Regel auf der Grundlage des Körpergewichts und des Hydratationsstatus berechnet wird, der durch Bluttests überwacht wird

Aus medizinischer Sicht

Das medizinische Management des Refeeding-Syndrom-Risikos ist genauso wichtig wie das Einhalten eines Refeeding-Mahlzeitenplans (wenn nicht sogar noch wichtiger), denn die Überwachung der Blutwerte auf Veränderungen der Elektrolytwerte ist einer der wichtigsten Schritte, um Komplikationen des Refeeding-Syndroms zu vermeiden. Es kann sein, dass dein Hausarzt in den ersten zwei bis drei Wochen täglich ein- bis zweimal pro Woche Blutuntersuchungen empfiehlt, um die Elektrolyte zu überwachen, zusätzlich zur Kontrolle von Herzfrequenz und Blutdruck.

Wenn bei einer Person ein hohes oder schweres Risiko für die Entwicklung eines Refeeding-Syndroms festgestellt wird, kann eine kurze stationäre Aufnahme empfohlen werden, damit die Blutwerte und mögliche Komplikationen genau überwacht werden können.

Zusätzlich zur Überwachung wird dir dein Hausarzt und/oder dein Ernährungsberater wahrscheinlich empfehlen, Nahrungsergänzungsmittel einzunehmen, wenn du ein hohes Risiko für ein Refeeding-Syndrom hast. Es gibt überzeugende Belege dafür, dass diese Nahrungsergänzungsmittel das Risiko von Komplikationen beim Refeeding-Syndrom verringern. Gemäß den NICE-Richtlinien wird empfohlen, mit den folgenden Nahrungsergänzungsmitteln zu beginnen, bevor die Ernährung umgestellt wird:

  •  Thiamin 200-300 mg täglich
  • Vitamin B Co Strong 1-2 Tabletten, 3 Mal täglich
  • Ein ausgewogenes Multivitaminpräparat wie z. B. Forceval

Je nach Blutbild kann dein Arzt auch Kalium-, Phosphat- oder Magnesiumpräparate verschreiben, wenn diese Elektrolyte vor Beginn der Ernährungsumstellung zu niedrig sind oder wenn die Werte dieser Elektrolyte während der Ernährungsumstellung sinken.

Bei den meisten Menschen ist nach 1-3 Wochen regelmäßiger und ausreichender Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme das Risiko der Entwicklung eines Refeeding-Syndroms vorbei und du kannst weiter daran arbeiten, deine Beziehung zum Essen aufzubauen, zu einem gesunden Gewicht zurückzukehren (falls zutreffend) und dich zu erholen.

Wichtig!

Wenn du befürchtest, dass du die Kriterien für die Entwicklung eines Refeeding-Syndroms erfüllst und dich in der Genesungsphase einer Essstörung befindest, solltest du unbedingt mit deinem Hausarzt und einem Ernährungsberater sprechen, um einen geeigneten Essensplan zu erstellen und Bluttests zur Überprüfung der Elektrolytwerte zu veranlassen. Da dieses Phänomen nach wie vor bisher nicht sehr bekannt ist und oft übersehen wird, empfehle ich außerdem, den Begriff „Refeeding Syndrom“ direkt anzusprechen.

So wichtig es auch ist, die Aufnahme von Essen und Trinken nicht zu verzögern, da ein weiterer Verzicht auf Essen und Trinken das Risiko der Entwicklung eines Refeeding-Syndroms und einer Verschlimmerung der Unterernährung weiter erhöhen kann, so wichtig ist es auch, sich nicht wieder normal zu ernähren, ohne eine Beurteilung durch eine entsprechend qualifizierte medizinische Fachkraft zu erhalten. Wenn bei dir Symptome eines Refeeding-Syndroms auftreten, dann stelle dich umgehend in der nächstgelegenen Notaufnahme vor.

Ein großes Dankeschön gilt an dieser Stelle Talia Cecchele, deren Artikel zum Refeeding Syndrom die Grundlage dieses Beitrages war.

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