Kommen dir diese Gedanken bekannt vor?
„Ich sollte weniger Müsli zum Frühstück essen.”
„Ich darf mir keine Snacks erlauben.”
„Ich muss mich mindestens xy Schritte am Tag bewegen.”
„Ich muss mehr Sport treiben.”
„Was kann ich heute noch weglassen?”
„Ich habe keine Essstörung, andere sind doch viel dünner als ich.”
„Ich bin noch nicht krank genug, um mir Hilfe zu holen.”
Alle diese Gedanken werden von einem Grundmotiv gefüttert, welches vor allem in der Magersucht stark ausgeprägt ist: Perfektionismus.
Vom Drang sich zu Tode zu optimieren
Ich selbst habe mich in den Phasen meiner Essstörung, in denen ich noch mit Essanfällen und Abführmittelmissbrauch zu kämpfen hatte, am meisten dafür gehasst, dass ich nicht genug Selbstdisziplin hatte, um so dünn zu werden wie die Mädchen in der Klinik, die wegen Magersucht behandelt wurden. Ich verachtete mich selbst für meine vermeintliche Schwäche und Disziplinlosigkeit.
Deswegen fühlte ich mich Jahre später, als ich der Meinung war meine Essstörung „unter Kontrolle“ zu haben auch so viel besser und war sogar stolz auf mich, weil ich mein Leben nun anscheinend im Griff hatte. Ich war so kontrollierend geworden, dass ich mich anderen gegenüber, die in meinen Augen maßlos gegessen haben oder Süßigkeiten nicht widerstehen konnten sogar überlegen fühlte.
Was für ein Irrglaube… Ich hatte zwar vermeintlich die Kontrolle und Disziplin erlangt, die ich mir so sehr wünschte, aber dafür waren die anderen Menschen, die mein essgestörtes Selbst so schändlich abgewertet hatte, frei und glücklich. Sie lebten ihr Leben in vollen Zügen, ohne Reue, Selbstbegrenzung und schlechtes Gewissen.
Ich hingegen steckte so tief in der Magersucht fest, dass sich meine Welt immer mehr verengte und alle meine Gedanken ausschließlich damit beschäftigt waren, mich selbst immer kleiner zu machen. Nicht nur meine äußere Hülle wurde immer zerbrechlicher, auch meine Gedankenwelt glich einem Gefängnis.
Mein Perfektionismus führte dazu, dass ich mich immer mehr versuchte zu optimieren. Mein Essen musste immer gesünder, weniger und cleaner werden (Orthorexie). Auch mein Sportpensum spiegelte den hohen Anspruch an mich wider. Jeden Tag musste ich mehr Schritte gehen, mich länger bewegen, härter trainieren und bloß nicht sitzen.
Doch egal wie sehr ich an mir arbeitete, es war nie genug.
Die Essstörung gab keine Ruhe. Der Spiegel zeigte mir noch immer meine Makel und keine Zahl auf der Waage war niedrig genug.
Anerkannte Charaktereigenschaften als Risikofaktoren
Bestimmte Charaktereigenschaften, wie eben der Perfektionismus, aber auch starke Gewissenhaftigkeit, ein hervorragendes Durchhalte- und Organisationsvermögen, Gründlichkeit und Zielorientierung können die Entstehung einer Magersucht (Anorexia Nervosa) begünstigen. So anerkannt diese Eigenschaften in der Gesellschaft sind, so destruktiv können sie werden, wenn es darum geht den eigenen Körper zu kontrollieren und dem überlebenswichtigen Drang nach Essen zu widerstehen.
Es sind vor allem die leistungsstarken, disziplinierten, in der Schule und im Job erfolgreichen Menschen, die besonders häufig von der Magersucht betroffen sind. Ihr Streben nach Perfektion und der Drang so gut wie möglich zu sein, zeigt sich in allen Lebensbereichen und die Anerkennung von außen ist ihnen meist so lange sicher, bis sich die Krankheit nicht mehr verleugnen lässt.
Auch ich habe jahrelang versucht so perfekt wie möglich zu sein. Ich wollte meinem Umfeld unterbewusst zeigen, dass ich eine Existenzberechtigung habe, dass ich gut genug bin und auch etwas kann.
Doch dieses Gefühl stellte sich nie ein.
Recovery: Ich bin gut genug
Erst in meiner Recovery lernte ich, dass ich den Zustand von „perfekt“ und „gut genug“ durch die Essstörung nie erreichen würde.
Egal wie viel ich abnehmen würde, wie muskulös ich wäre, wie diszipliniert… Die Magersucht würde mich nie gehen lassen.
Jahrelang war ich dem Irrglauben erlegen, dass ich eines Tages aufwachen und zufrieden mit mir sein würde.
Die Kontrolle loszulassen, fiel unglaublich schwer und dennoch begriff ich, dass dies der einzige Weg war, um wirklich glücklich zu werden.
Doch selbst in der Recovery musste ich lernen den Perfektionismus loszulassen.
Perfektionismus sabotiert die Recovery
Der Wunsch alles richtigzumachen wirkt sich auch auf die Recovery aus. Die folgenden Gedanken sind nur einige Beispiele dafür:
– Ich möchte meine Recovery so gut wie möglich machen.
– Mein Essen muss perfekt sein und besonders gut schmecken, damit sich die Kalorien „lohnen“.
– Ich muss jetzt den Snack finden, der mir am allerbesten schmeckt.
– Ich muss mich ganz genau an meinen Meal Plan halten und darf nicht davon abweichen.
– Ich muss alles richtig machen, um vollständig gesund zu werden.
Zu akzeptieren, dass die Heilung einer Essstörung alles andere als perfekt ist, war ein schwerer Schritt. Ich dachte, ich würde eine gerade Linie nach oben gehen, zurück in ein gesundes Leben.
Doch der eigentliche Weg führte mich nach Innen. Zu mir selbst und meinem wahren Kern.
Mit jeder neuen Herausforderung, mit jeder schmerzhaften Erfahrung und mit jedem Gefühl, welches ich nicht mehr mit der Essstörung kompensieren konnte, lernte ich mich selbst ein Stück besser kennen.
Die große Frage „Wer bin ICH eigentlich ohne meine Essstörung?“ schwebte lange Zeit über mir. Ich hatte weder einen Zugang zu meinen Bedürfnissen, noch zu meinen Wünschen. Ich fühlte mich leer, verloren und orientierungslos. Diesen Zustand anzunehmen, war der erste Schritt von vielen. Es gab auch vermeintliche Rückschritte, die im Nachhinein betrachtet jedoch alle zum Prozess gehörten und mir halfen mein wahres Ich zu finden.
Wenn du dich gerade auf deinem eigenen Weg aus der Essstörung befindest, möchte ich dir diese wichtige Botschaft mitgeben:
Recovery ist nicht perfekt: Es gibt kein „richtig“ oder „falsch“ auf deinem Weg. Du darfst deinen ganz eigenen Trampelpfad gehen. Du darfst dich verirren, dich verloren und hoffnungslos fühlen. All das ist Teil des Prozesses. Das Wichtigste ist, dass du weitergehst. Ganz unperfekt und in deinem Tempo. Du wirst sehr viel über dich lernen und dich völlig neu entdecken.
Ich vergleiche diesen Prozess auch gern mit der Entwicklung eines Schmetterlings.
Auch er ist nicht von heute auf morgen aus seinem Kokon geflogen. Am Anfang ist er eine kleine Raupe, die sich bis zu viermal häutet. Dann verpuppt er sich und die Puppenhaut ist zunächst noch ganz weich und empfindlich. Eines Tages schlüpft der Schmetterling. Doch selbst dann muss er noch warten, bis seine Flügel ausgehärtet sind und er endlich losfliegen kann.
Gib dir Zeit und erlaube dir, dass der Prozess das Gegenteil von perfekt ist.