Eines Tages, Baby, werden wir alt sein… – Julia Engelmann Konzert Erfurt

„Eines Tages, Baby, werden wir alt sein…“Foto: Romy Hörbe

Ich liege auf dem Friedhof im Gras.
Ich liege auf dem Friedhof im Gras neben dem Grabstein meines Opas.
Ich liege auf dem Friedhof im Gras neben dem Grabstein meines Opas und schaue zwischen Bäumen hindurch in die vorbeiziehenden Wolken.
„Wir liegen unter dem selben Himmel.“ schießt es mir plötzlich durch den Kopf.
„Für dich bin ich damals am Leben geblieben.“, sagt eine Erinnerung aus der Vergangenheit.
„Für dich möchte ich mein Leben wirklich leben, denn du bist viel zu früh gegangen.“
„Du bist der einzige Mensch, der immer bedingungslos an mich geglaubt hat.“

All diese Gedanken ziehen vorbei, wie die Wolken am surreal blauen Novemberhimmel.
Ich bin traurig, suche Antworten, Unterstützung.
Ich vermisse dich und wünschte, du könntest mir sagen, was ich mit meinem Leben, meinen Möglichkeiten, anfangen soll.
Ich weiß noch, wie stolz du auf mich warst, als du meine ersten Modelbilder gesehen hast.
Du hast dir immer die verrücktesten ausgesucht, um sie dir in die Wohnung zu hängen.
Bei dir durfte ich sein wer ich war und sein wollte.
Du hast immer an mich geglaubt.

Ich weiß noch, wie stolz du auf mich warst, als ich dir eine CD mit meinem ersten und einzigen Lied, was ich jemals eingesungen habe, geschenkt habe.
Jedem hast du sie vorgespielt, ob er sie hören wollte oder nicht.
Auf der Palliativstation hat sie dir Kraft gegeben.
Diese CD – dieses Lied, welches ich beinahe nicht aufgenommen hätte vor lauter Angst und mangelndem Vertrauen in mich.
Doch allein für dich und deine Freude, bin ich froh diese Angst überwunden zu haben.
Du hast an mich geglaubt.

Deshalb liege ich jetzt neben dir und schaue in den selben Himmel.
Oder schaust du von oben zu mir herab?
Ich bin heute hier um dir nah zu sein, noch näher als du mir eh schon in meinem Herzen bist.
Ich bin auf der Suche nach mir und was ich bin.
Auf der Suche nach dem was ich kann.
Voller Selbstzweifel und innerer Begrenzung.

Ich wünschte du könntest mit mir reden, mir einen Tipp geben oder einen Tritt in den Po. Ja, so wie damals, als du dich der unerfreulichen Herausforderung, mir Mathe beizubringen, gestellt hast.
Noch heute bewundere ich dich für deine Geduld mit mir, wenn ich unmotiviert und gequält vor den Aufgaben saß, die du mir mit so viel Ruhe und Gelassenheit erklärt hast.
Doch du bist nicht mehr hier.
Kannst mir keinen Ratschlag geben.
Und noch immer höre ich dich sagen: „Du solltest mehr mit Musik machen. Darin sehe ich dein Potential.“
Wirklich?
Mein innerer Kritiker wehrt sich.
Schick mir doch bitte ein Zeichen, einen Hinweis, irgendwas…

Mein Telefon klingelt mitten in meinen Zweifelkreisel.
– Anonym –
„Gruselig“, schießt es mir durch den Kopf.
„Hallo?“ frage ich mit gebrochener Stimme voll ungläubiger Unsicherheit und vom langen Schweigen ganz rau.
„Willst du mit zum Konzert kommen?“, tönt es schmerzhaft laut vom anderen Ende in die Friedhofsstille.
„A.“ denke ich und die Anspannung fällt so plötzlich ab, wie sie gekommen ist.
Was für eine Unterbrechung meiner Gedanken.
„Konzert? Wer spielt denn?“ frage ich, noch immer etwas unmutig und benommen.
„Julia Engelmann.“
„Julia wer??“
Meine Unwissenheit und meine Motivation sind in etwa so groß wie damals beim Mathelernen.

Ich gebe mir kurz Bedenkzeit und google schnell nach.
Das erste Lied was ich finde lautet „Grapefruit“.
Was ist das denn für ein Titel?
Doch schon nach ein paar Worten und spätestens beim zweiten Song “Grüner wird’s nicht“, überkommt mich das seltsame Gefühl, dass diese Julia genau die Fragen anspricht, die mich heute hier auf den Friedhof geführt haben.
Ein Zeichen!?
Ich wollte ein Zeichen… und es kommt in Gestalt eines Konzertes.
Meine erster Impuls abzusagen ist verflogen wie die Schleierwölkchen am Himmel.
Glasklar und blau ist es über mir und die Sonne bereits hinter dem Berg abgetaucht.
November eben.
Es gibt keinen Grund mehr für mich noch länger hier zu bleiben.

————

Erwartungsvoll und mit einem Gefühl, dass ich genau heute und jetzt hier sein soll, sitze ich abends in der sehr gut gefüllten Erfurter Messehalle vor dem Bühnenbild einer Dachterrasse. Eine Art Scherenschnitt mit Lichterkette, Hochhäusern, Sternenhimmel – der Himmel hat’s heute aber auch mit mir – und auch ein Einhorn ist natürlich dabei.

Kaum betritt Julia Engelmann die Bühne, wirkt alles sehr familiär und nah. Ihre bodenständige, offene und herzliche Art, ganz ohne Starallüren, nimmt das Publikum und vor allem mich sofort gefangen.
Dass sie erst in zweiter Linie Musik macht und ihr Album „Poesiealbum“ nur eines ihrer Ausdrucksmittel ist, habe ich auf dem Weg nach Erfurt noch schnell ergoogelt.

Berühmt geworden als Poetry-Slam-Talent, bewegt sie die Menschen mit persönlichen Texten über Fragestellungen und Themen, die eine ganze Generation zu betreffen scheinen.
Mich hat Julia vor allem mit ihrer Dankbarkeit für das Leben, ihre Eltern und ihrer unglaublich positiven Art, ohne alles schönzureden berührt. Sowohl beim Gedicht „Für meine Mutter“ wie auch „Für meinen Vater“ kullern mir Tränen übers Gesicht.
Mir, die ich die letzten Jahre geglaubt hatte meine Emotionen verloren zu haben – Ereignisse und so…
Mir, die nichts mehr wirklich nah an sich heran lässt.
Mir, die geglaubt hat sie sei kaputt und der Kanal zu ihren Gefühlen für immer verschüttet…

Und hier sitze ich und mein Gesicht klebt von salzigen Tränen ganz nass.
Ich kann fühlen, wie Julia sich als Kind gefühlt haben muss, mit einem Vater, der ihr den Weg freigemacht hat, damit sie unbeschwert vor die Tür tanzen kann.
Ich kann fühlen, wie schön es sein muss, wenn deine Eltern bedingungslos hinter dir stehen, dich unterstützen, an dich glauben. Ein Gefühl, welches ich nur von meinem Opa so kenne.

Und doch hat auch Julia Zweifel, Ängste und einen großartigen Kanal um damit umzugehen und auch anderen dadurch Mut zu machen.
Sie steht zu ihren eigenen kleinen Unperfektheiten und wirkt dadurch nur noch sympathischer, fast schon weise, für ihre so jungen Jahre.

Halb gesprochen, halb gesungen macht sie eine „Bestandsaufnahme“ ihres Lebens und ich ertappe mich dabei, wie ich mein eigenes Leben anschaue und denke: „Mensch, das solltest du auch mal machen.“ Wie oft meckern wir doch über Dinge, die wir nicht haben oder meinen zu brauchen? Wie oft vergleichen wir uns mit anderen und denken, auch wir müssten so ein „Modelmädchen“ sein? Und wie selten sind wir dankbar für all das was wir haben und was uns so selbstverständlich erscheint?

Ich merke, wie sich in meiner Brust im Laufe des Abends ein immer größeres Gefühl von Wärme, Dankbarkeit, Verbundenheit und Liebe ausbreitet.
Ich spüre, dass alles seine Richtigkeit hat und ich aus einem ganz bestimmten Grund hier sitze.
Julia Engelmann spricht all das an und aus, was mich gerade berührt und bewegt, worauf ich mir Antworten oder den Austausch mit meinem Opa gewünscht hätte.

Ich merke auch, dass ich mir und meiner Intuition vertrauen darf. Dass sich alles fügt und kommt wie es kommen soll, wenn ich die Augen aufmache und hinschaue.
Ich fühle mich daran erinnert, wie kostbar, einzigartig und wunderschön das Leben ist und wie sehr wir es in der Hand haben, all das was uns gegeben wurde, zu nutzen.
„Grüner wird’s nicht“, denn: „Eines Tages, Baby, werden wir alt sein und an all die Geschichten denken, die wir hätten erzählen können.“

Meine Geschichte begann heute ohne Plan und mit einem Kopf voller Fragen auf dem Friedhof und endet in Erfurt, mit einem gefüllten Herz voll Dankbarkeit.

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